zu den Arbeiten von 2010-2012

“Das eigentlich charakteristische dieser Welt ist ihre Vergänglichkeit.” Franz Kafka

Die Futuristen strebten danach, Bewegung und damit die Zeit als vierte Dimension in gemalten Bildern festzuhalten, so dass Dynamik und Statik in der Malerei miteinander vereint werden konnten. Eines der berühmtesten Beispiele ist Marcel Duchamps Serie “Akt, eine Treppe herabschreitend”[1] mit wie eingefroren wirkenden abstrahierten Körpern in stakkatohafter Bewegung. Voraussetzung hierfür war die Fotografie, schien sie doch das geeignetere Medium zu sein, um Bewegungsabläufe im Bild sichtbar zu machen. Fotopioniere wie Edward Muybridge leisteten die Grundlage hierfür durch Erfindung der Chronofotografie.[2] Abgesehen von dieser Form der Zerlegung von Bewegung in Einzelsequenzen ergeben sich bei langen Belichtungszeiten in der Fotografie gewöhnlich Unschärfen, die auch für unbeabsichtigte Verwacklungen gehalten werden können. Das flüchtige, verwischte Abbild der Wirklichkeit ist damit eine andere Möglichkeit, Bewegung und damit den Verlauf der Zeit bildnerisch darzustellen.

Auf eine sehr eigene Art und Weise befasst sich die Berliner Malerin Ursel Ritter in ihren neuen Bilderzyklen von 2010 bis 2012 mit dem Festhalten vergänglicher Momente im Verlauf der Zeit und deren Reflexion in der künstlerischen Arbeit. Ihr Medium ist die Acrylmalerei, die sie mit selbst erstellten und digital bearbeiteten Fotoprints in einen symbiotischen Dialog treten lässt. Dabei nähern sich, technisch gesehen, beide Medien einander an und verschmelzen gewissermaßen auf der Leinwand zu einer Einheit. Sie fotografiere, so die Künstlerin, “mit dem malerischen Auge”. Durch digital herbeigeführte Unschärfen oder tatsächlich erzeugte Geschwindigkeit bei der Aufnahme entstehen charakteristische Verwischungen der Motive, die die malerische Qualität der Fotografien steigern. Analog dazu ist der Farbauftrag gänzlich abstrakt und gegenstandslos, so dass man im Ergebnis von “Paintprints” sprechen könnte.

In den Fotografien hält die Künstlerin subjektiv erlebte Momente im Verlauf der Zeit fest und fokussiert Ausschnitte ihrer erlebten Umwelt mitunter aus dem fahrenden Auto heraus. Die Unbeständigkeit des Augenblicks steht hier im Vordergrund, die Fotos scheinen weniger Beweise für die materielle Existenz zu sein, als vielmehr Zeugnisse der Flüchtigkeit der Zeit und somit der Vergänglichkeit. Das entspricht der Sicht Jean Paul Sartres, für den die “eigene Definition von Zeit immer auch den Umgang mit sich und damit auch das Seinskonzept” widerspiegelte.[3] In den Aufnahmen tauchen urbane Fragmente wie Häuser, Straßen, Plätze oder Baustellen auf, aber auch Landschaften in freier Natur. Oft sieht man auch Menschen in Bewegung, einzeln oder in Gruppen, festgehalten in ihrer jeweiligen Umwelt, und die, obgleich sie real existiert, für den Betrachter zumeist anonym bleibt.

Das individuelle Erleben des Moments als erinnerungsschaffende Komponente steht in den Bildern im Vordergrund. Dabei geht es Ursel Ritter nicht darum, die Linearität von Zeit als physikalisch messbarer Einheit darzustellen, sondern um das Aufzeigen der Polarität von messbarer Zeit und subjektiv erfahrener Zeit. Die Bedeutsamkeit eines im Foto festgehaltenen Augenblicks wird zur Synthese von Bewegungsmoment und Bewusstseinsstrom und manifestiert die permanente, schwer vorstellbare Gleichzeitigkeit von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit.

Formal experimentiert die Künstlerin auf sehr poetische Weise an der Schnittstelle von Realem und Abstraktem, also “in between” oder im Zwischenbereich von gegenständlicher und informeller Kunst. In ihren Werken stellt sie verfremdete Fotoreihen oder Fotofelder, die zum Teil Reales erkennen lassen, horizontal übereinander gefügten Farbschichtungen, vertikal gereihten Farbfeldern gegenüber und erreicht so eine expressiv-lyrische Bildwirkung, ohne in eine strenge und damit starre Tektonik zu verfallen.

© Manuela Lintl M.A. (Kunstwissenschaftlerin), 2011———————————

[1] Ein Sujet, das der Künstler in mehreren Versionen umsetzte.

[2] Muybridge (1830 – 1904) gilt – neben Étienne-Jules Marey und Ottomar Anschütz – aufgrund seiner Reihenfotografien und Serienaufnahmen mit Studien des menschlichen und des tierischen Bewegungsablaufs als einer der bedeutendsten frühen Vertreter dieser revolutionären Bildtechnik.

[3] Vgl. Heinz-Norbert Jocks, Im Angesicht der Zeit, Ein Exkurs über Zeit, Existenz und Kunst, in: Kunstforum International, Band 150, Ruppichteroth 2000, S. 77